Deutschland im Fachkräftemangel?

Immer wieder lese ich in umfangreichen Diskussionsbeiträgen vom Fachkräftemangel in Deutschland, was getan werden müsse – und von wem – um die Unternehmen weiterhin mit qualifizierten Mitarbeitern zu versorgen.

Wann spricht man von einem Fachkräftemangel?

[…] gibt es keine Datenquelle, die zeitnähere und differenziertere Informationen zum Arbeitsmarktgeschehen bereitstellt als die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit, die monatlich aus den Prozessdaten gewonnen werden. (siehe hier)

Die Datenbasis sind demnach die Werte der Agentur für Arbeit (AfA) und auch hier gibt es Einschränkungen in der Quantifizierung:

[…]nur etwa jede zweite offene Stelle (wird) der Bundesagentur für Arbeit gemeldet. (siehe hier)

Da es keine allgemeingültige Definition gibt, wann für eine bestimmte Branche ein Fachkräftemangel gegeben ist,  hat die AfA drei Eingrenzungen vorgenommen. Der Mangel ist gegeben, wenn die folgenden drei Kriterien gemeinsam zutreffen:

– Die durchschnittliche abgeschlossene Vakanzzeit im betrachteten Beruf liegt 30% bis 40% über dem Durchschnitt aller Berufe.
Die Vakanzzeit ist die Dauer, die es im Durchschnitt benötigt, bis eine Stelle besetzt ist. Hier werden allerdings eine Reihe Faktoren ausgelassen, etwa der regionale Einfluss oder unattraktive Arbeitsbedingungen, wegen derer eine Besetzung länger dauert.

– Auf 100 offene Stellen kommen bei Fachkräften und Spezialisten weniger als 200 Arbeitssuchende – bei Experten weniger als 400.

– Die berufsspezifische Arbeitslosenquote (bezogen auf alle Erwerbstätigen und Arbeitslosen) liegt nicht höher als 3 Prozent.

Mit diesen Vorgaben kam das AfA in seinem monatlichen Bericht 06/2018 zu der Aussage:

[…] trotz stark gestiegener Vakanzzeit, sowie einer knapper gewordenen Arbeitslosen-Stellen-Relation, kann von einem umfassenden Fachkräftemangel in Deutschland nach wie vor nicht ausgegangen werden.

Die Segmente mit einem Fachkräftemangel gem. obiger Definition werden nach Gruppen geordnet (Berufssektoren und Berufssegmenten) und im Bericht mit Stellenbedarf aufgeführt:

Rang 1:  Im Gesundheitswesen werden insgesamt 36.000 Stellen gemeldet (die Altenpflege, als Untergruppe, ist mit 11.300 offenen Stellen vermerkt).
Rang 2:  In der Fahrzeugtechnik gibt es 30.800 offene Stellen.
Rang 3: Das Baugewerbe liegt mit 11.300 offenen Stellen weit hinter dem Gesundheitswesen.
Rang 4:  In der IT sind 3.900 offene Stellen gemeldet.

Schaue ich auf diese Zahlen, so erscheint mir das Problem des Fachkräftemangels, zumindest in der IT, überschaubar. So werden in  Softwareentwicklung und Programmierung, (Bereich 434) 3.900 offene Stellen genannt, wobei hier noch zwischen Fachkräften (700 Stellen) und Experten (3.200 Stellen) unterschieden wird.

Das Klagen ist groß

Der IT Verband BitCom spricht von 55.000 fehlenden Fachkräften in nächster Zukunft (11/2017). Die Arbeitsmarktmeldungen der AfA (3.900 Stellen) stehen hierzu in einer großen Diskrepanz.
Dass IT – Anwendungen tiefer als bisher in unser Leben hineinwirken werden, davon bin ich überzeugt. Dass allerdings aus diesem Trend zwangsläufig auch ein solch hoher Stellenbedarf erfolgt, das mag auf der Hoffnung beruhen, dass die Automatisierung zwar viele Branchen treffen werde, aber just nicht die IT, welche sie vorantreibt. Dass eine solche Hoffnung trügerisch sein kann, hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt.

Gefühltes Leid und Druck

Was macht die ständige Wiederholung des Begriffs „Deutschland im Fachkräftemangel“ mit den Menschen, seien es arbeitende oder arbeitssuchende? Allemal schürt es die Sorge, für den zukünftigen Arbeitsmarkt nicht ausreichend qualifiziert zu sein und zu glauben, dass nur ständiges Qualifizieren und Anpassen die Chance auf einen lohnabhängigen Arbeitsplatz bietet. Diese Haltung steigert ein Mangeldenken und verschärft den Kampf um Arbeitsplatzsicherheit – es wächst die Zukunftsangst. Unter anderem entsteht so ein günstiges Klima für politische Extreme.

Reichlich Indizien unterstreichen das allgemeine „Unwohlsein“ bei den Menschen – die beschleunigte Digitalisierung (welche die Automatisierung steigert und so Arbeitsplätze abbaut) oder das rasante Ansteigen von Zeitverträgen in vielen Branchen sind klare Hinweise auf eine sich verändernde Arbeitswelt.

Zu wenig IT-Studenten?

Im HRK – Bericht (Hochschulrektorenkonferenz) des Prüfungsjahres 2016, im Bereich Ingenieurwissenschaften, findet sich zu bestandenen Prüfungen diese Aufstellung:

-Universitätsabschlüsse 3.387
-FH – Abschlüsse 2.788
-Bachelorabschlüsse 73.200
-Masterabschlüsse 42.188

Die Summe der jungen Absolventen aus Ingenieursberufen im Jahr 2016 liegt also bei 122.219. Zum Vergleich: im Prüfungsjahr 2014 waren es 88.710.
Im Schnitt verlassen demnach rund 50.000 junge Menschen mit einem Ingenieursabschluss die Hochschulen (Bachelorabschlüsse nicht berücksichtigt).

Ein Gutteil dieser Absolventen ist dabei aus dem Bereich Informatik.

Man kann diese Zahlen noch etwas differenzieren: von den Bachelorabschlüssen (73.200 in 2016) geht ein wesentlicher Anteil der Studierenden in die Masterstudiengänge der Folgesemester. Einige jedoch gehen mit dem Bachelorabschluss auf den Arbeitsmarkt.
Von den Universitäts- bzw., FH – und Masterabschlüssen (48.363 mit Ingenieursabschluss) werden rund 12.000 IT – nahe Abgänger den Arbeitsmarkt betreten, hinzu kommen nochmals rund 7.000 Bachelorabsolventen aus dem Bereich (hier sind nicht jene Informatiker enthalten, die vom europäischen und nichteuropäischen Ausland kommend in Deutschland eine Arbeitsstelle suchen).

Selbst wenn ich die Abschlusszahlen der IT – Absolventen (19.000) anzweifele, Abstriche (zu den schon vorgenommenen) mache und annehme, das lediglich 15.000 neue Informatiker jährlich auf den Markt drängen, so erscheint mir das als großes Potential, um einem zukünftigen Mangel entgegenzuwirken.

Es kann nur vorwärts gehen – aber wohin?

Finden diese jungen Studienabgänger etwa nicht zu den Unternehmen? Liegt es an den Absolventen, die einige Jahre zielstrebig studiert und einen erfolgreichen Abschluss geliefert haben? Sicher hat sich die Haltung der jungen Menschen und deren Bild von Arbeit geändert. Die GenY folgt nicht mehr unvoreingenommen den tradierten Angeboten der Unternehmen von Karriere, Statussymbolen und Rentensicherheit, sondern schaut eher verwundert auf die starren Strukturen ihrer potentiellen Arbeitgeber – und sucht nach Alternativen.

Wenn Status und Geld keine maßgebliche Triebkraft für ein Arbeitsverhältnis sind, um sich einem tayloristisch denkenden Unternehmen zu verschreiben, dann laufen diese Arbeitsmodelle aus, müssen neu gedacht werden. Und es wird schwieriger neue Mitarbeiter zu finden – noch mehr, sie zu halten.

Mit lauen Pflastern wie „Employer Branding“ wird hier sicher keine Besserung erreicht – es gilt, sich dem unternehmerischem Auftrag gegenüber seinen Kunden, Mitarbeitern und letztlich der Gesellschaft zu stellen – und neu zu denken. Der vielleicht auch aus politischen Gründen ausgerufene Notstand eines Fachkräftemangels ist mir – zumindest in der IT – im Moment nicht nachvollziehbar.

 


Die Anzeichen einer sich zunehmend schneller verändernden Arbeitswelt beschäftigen viele Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Es wird deutlich, dass unsere Strukturen und Werte dringend auf den Prüfstand gehören.
Konzepte, welche vor 120 Jahren unter gänzlich anderen Marktbedingungen hervorragend wirkten, sind heute nicht mehr reaktionsfähig. Auch wenn der Begriff „agil“ in den letzten Jahren überstrapaziert wurde, es bleibt die Frage wie Unternehmen mit den veränderten Anforderungen weiterhin wertschöpfend, nicht nur umsatzbezogen, agieren können. Hiermit beschäftigt sich New Work, nicht nur mit einer Vielzahl wesentlicher Ansätze und Gedanken, sondern auch mit konkreten Beispielen und Hilfestellungen.

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